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Blume im Asphalt
Vor die Tür gesetzt – Artisten
Florartistik
Wir haben den Boden unter uns verloren
Wir mögen das Abenteuer
Wir hängen in der Luft
Wir wissen, was wir wollen
Wir lieben eine Erfrischung
Wir wachsen über uns hinaus
Wir ziehen uns gleich an
Wir arbeiten synchron
Wir bewegen uns im Wind
Wir bewegen uns zur Sonne
Wir werden bewundert
Wir werden geliebt
Wir sind uns der Gefahr bewusst
Wir können sterben
Wir sind Überlebenskünstler
Wir sind Artisten auf dem Trapez
Carina Gerstengabe
Mut
Verstohlen mustert die kleine gelbe Pflanze die anderen, viel größeren und älter wirkenden Pflanzen. Aufgeregt ruckelt sie in ihrem dunkelbraunen Blumenkasten herum. Rutscht vor, wieder ein Stück zurück. Vor, zurück, vor und wieder zurück. Dieses Szenario geht über mehrere Minuten lang. Irgendwann ein genervtes Stöhnen von der Seite. „Meeein Gott“, scheint die sich zu ihrer Linken befindenden Pflanze sagen zu wollen. „Entspann dich!! Es geht doch nur um eine Anmeldung“. Die kleine Gelbe schüttelt empört ihren Blütenkopf, kann diese Unwissenheit kaum glauben. Denn hier geht es nicht nur um IRGENDEINE Anmeldung. Hinter der großen und fast schon bedrohlich wirkenden Tür findet DIE Anmeldungen statt. Denn: In drei Wochen ist es endlich soweit. Dann findet sie statt: die große Artistik-Show. Schon seit Wochen, nein, bereits seit Monaten, bereitet sich das knallgelbe Ding auf diesen Moment vor. Das wird ihr Tag, die anderen Blümchen werden vor Neid erblassen, sie für ihren artistischen Mut, die hervorragende Idee, die Leichtigkeit ihrer Show-Einlage bewundern und bejubeln. Sie wird DER Star des Abends sein. Diese Worte murmelt sie immer wieder vor sich her, vorallem, um sich selber zu beruhigen. Denn vielleicht ertönt statt Applaus auch eher ein lautes Buuuuh aus der Zuschauermenge. Und was passiert, wenn sie stürzt, sich am Blütenstengel verletzt? Wenn ihr die zarten Blüten abbrechen. Was für eine Blamage! Dann ist er vorbei, der große Traum! „Nein, das wird nicht passieren“, flüstert sie ganz leise vor sich hin. „Du machst das jetzt einfach, öffnest die Tür, spazierst selbstbewusst den langen Flur entlang und setzt deinen Namen auf das Anmeldeformular. Los! Ab gehts!“ Doch die aufmunternden Worte verfehlen ihre Wirkung… Still und eingeschüchtert, wütend auf sich selbst, bleibt sie an ihrem Platz. Doch kurz bevor sie wieder zurück in ihren kleinen Vorstadt-Garten schleichen kann, mit hängenden Kopf, ertönt ein Zischen von rechts: „Pass auf, du Angsthase! Wir ziehen das jetzt gemeinsam durch. Bei drei rutschen wir hier am Geländer herunter. Wir alle gemeinsam — und dann bewegst du dich an die Rezeption und meldest dich an, keine Widerrede! Eins, zweeeeeeei uuuund dreeeeeeei!“ Bevor die sonnengelbe Pflanze es sich anders überlegen kann, schubst sie der linke Strauch an, und sie rutscht in einem Affentempo das Geländer herunter, landet genau vor der jetzt riesig-wirkenden Tür. Sie atmet tief durch, öffnet sie und schreitet voran…
Lisa Rosanski
Vor die Tür gesetzt – Hochstapler
GO WEST!
“Nur noch ein kleines Stück! Ein winziger Zentimeter!” Aufgeregt schüttelte Bäumchen seine kleinen vertrockneten Blätter und bohrte die dünnen Wurzeln noch tiefer in die ausgelaugte Erde. “Nicht so fest!”, grummelte Blumentopf und kniff Bäumchen in die Füße. “Hört auf zu streiten”, ermahnte Steinklotz seine beiden Weggefährten. Doch wer den alten Griesgram ein wenig kannte, der hörte in seiner Stimme ein ungewohntes Zittern: Nach all den Jahren schien das Paradies zum Greifen nahe …
Unzählige Jahre waren vergangen, seitdem sich Steinklotz, Blumentopf und Bäumchen auf dem grauen Asphalt getroffen hatten. Drei verlorene Seelen auf endloser Wanderschaft, vom Schicksal zusammengeführt: Einsam, entwurzelt und vertrieben, auf der Suche nach einer Heimat jenseits des Halteverbots – und auf der verzweifelten Flucht vor den allpräsenten Verbotsschildern, die ihnen ein Leben in angstvoller Ruhelosigkeit bescherten. „Irgendwo, im Westen“, erzählte Steinklotz, „dort soll es ein Schild geben, das stärker ist als sie alle! Das Schild der Hoffnung, unter dem Klötze, Kübel und Kameraden sich zur Ruhe betten können und ein neues Zuhause finden!“ In jener lauen Sommernacht schmiedeten die drei einen Plan: „Lasst uns zusammen weitergehen und nach dem König der Schilder suchen!”
Nicht eher wollten sie rasten, bis sie das Schild der Befreiung erreicht hatten. Sonnenglut, Eis und Sturm konnten sie nicht aufhalten: Millimeter für Millimeter kämpfte sich das ungleiche Trio den unbarmherzigen Asphalt entlang; watete durch tiefe Pfützen und umschiffte heldenhaft jede Baustelle. Schon längst waren aus den Verbündeten enge Freunde geworden: Sobald einer nicht mehr weiterkonnte, wurde er von den anderen getragen. Nach Jahren der Wanderung war ihre Kraft nun schon fast am Ende – doch plötzlich, eines Morgens, funkelte ein Silberstreif am Horizont. „Ich kann es sehen! Und es ist wunderschön“, rief Blumentopf und riss seine Gefährten aus ihrer Lethargie. Nun sah es auch Steinklotz: Ein fernes Glitzern in der Morgensonne. Der Könige der Schilder? Oder doch nur eine Fata Morgana …?
Hunger, Durst und Müdigkeit waren verflogen. „Nur noch ein kleines Stück“, sagte Bäumchen, das es sich ganz oben auf dem Ausguck bequem gemacht hatte. „Sieh nur, ich mache mich auch ganz leicht!“ Mit einem letzten Akt der Anstrengung sammelte Steinklotz alle Kraft, die seinem alten Körper noch innewohnte. Ächzend trotzte er ein letztes Mal der bleiernen Schwerkraft – und streift mit einem dumpfen Klacken, das einem triumphalen Freudenschrei gleichkam, mit einer moosbewachsenen Ecke das kühle Metall des Schildes. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr dem grauen Kasten, während Blumentopf auf seinem Rücken einen kleinen übermutigen Luftsprung machte. Das Bäumchen klang wieder so jung wie damals, als ihre gemeinsame Reise begann: “Endlich, Freunde! Endlich sind wir angekommen!“
Wiebke Leßmann
Vor die Tür gesetzt – Wächter
Nein, ich trau mich nicht. Zu hoch, zu steil, zu weit. Und ob ich fliege, das kann mir keiner garantieren. Obwohl, ständig hier oben herumzulungern und über das Fliegen nachzudenken, das kann doch auf Dauer nicht befriedigend sein. Andererseits, wer soll mich denn wieder in diese bequeme
Position nach oben bringen? 36 Sekunden, so stell ich mir das immer vor, nur mehr 36 Sekunden, dann ist es so weit. Doch die Zahl ist wie ich, sie bewegt sich nicht, kein Stück, kein klitzekleines bisschen. Dabei wäre es so einfach. Wie weit der Wind mich wohl trägt, wenn ich ein Stück nach vor rutsche und die Schanze hinunterfliege?
Jürgen Hirschmann
Es ist triest. Die Rolläden des Hauses nebenan sind zu, das Gebäude war schon lange bevor er hier stand verlassen. Nur selten kam jemand des Weges. Doch Beachtung? Nein, die wurde dem Waldkieferstrauch nur selten zuteil. Etwa dann, wenn es darum ging, eine leere Bierdose in seinen Schoß zu werfen oder Zigaretten darin auszumachen. Er stand trotzdem immer tapfer wie ein Wächter seinem Freund, dem Verkehrszeichen, zur Seite. Gewiss, sie sprachen nicht viel miteinander. Aber bedarf es für eine tiefe Freundschaft nicht mehr der einfachen Gesten als der vielen Worte? Stille.
Jürgen Hirschmann
Vor die Tür gesetzt – Häftlinge
Vor die Tür gesetzt – Wanderer
Vor die Tür gesetzt – Geschwister
Mit beiden Beinen steht er auf dem Boden aus Stein,
er ist so stolz darauf, der Große zu sein.
Mit gemischten Gefühlen sieht er zu seinem Bruder, dem Kleinen,
der dünner ist, niedlicher und mit Blättern, so feinen.
Der immer ist erhaben, der immer steht im Rampenlicht –
der große Bruder, der tut das nicht.
Doch auch wenn der Große sich fühlt wie abgeschoben,
sagt er stets zum Kleinen: „Du bist bei mir aufgehoben.“
Denn Geschwisterpflanzen, wer weiß das nicht, die lieben und die hassen sich.
Kathrin Brüggemann
Vor die Tür gesetzt – Alleinstehende
Lieblos hingestellt und dann verlassen,
die Blätter immer mehr erblassen.
Ihr Dasein, so trostlos, so ohne Sinn,
dass sie sich fragen, wo ist mein Weg, wo muss ich hin?
Doch damit wird man ihnen nicht gerecht –
denn die Alleinstehenden, die sind tapfer, die sind echt.
Die lassen sich nicht verjagen, bleiben stolz an einem Ort,
weil sie wissen, hier geh ich nicht mehr fort.
Sie schlagen Wurzeln und sind treu ergeben –
nichts kann sie stürzen, nicht mal ein Erdbeben.
So warten sie mit erhobenem Haupt
und hoffen auf den wohlverdienten Applaus.
Kathrin Brüggemann
Vor die Tür gesetzt
Diese Arbeit ist im Rahmen der AdHoc-Gruppe entstanden. Wir hatten uns als Jahresthema „Naturpodeste“ ausgesucht- erstmal nicht so leicht zu greifen, aber ich habe mich mit großem Spaß in in das Thema eingearbeitet. Entstanden ist eine umfangreiche Sammlung von Blumentöpfen in ihrem Umfeld. Diese habe ich in unter verschiedenen Überschriften in Kapitel einsortiert. Die einzelnen Kapitel werde ich jeweils als einzelnen Post veröffentlichen.
Einige Bilder habe ich an liebe Kolleg*innen gegeben und sie gebeten, ihre Gedanken dazu in einem kurzen Text aufzuschreiben. Diese Texte finden sich in den Beiträgen, zu den entsprechenden Bildern zugeordnet.
Viel Spaß beim Lesen und Gucken!